Wie verändert die Digitalisierung, wie sich Gesellschaften regieren? Die sozialen „technologies of government“ sind stets eng mit den verfügbaren Informationstechnologien verknüpft. Digitaltechnologien bieten radikal neue Möglichkeiten der Kommunikation, Wahrnehmung und Intervention. Somit verändern sie potenziell das Regieren, von der politischen Willensbildung über Organisationsformen von Staatlichkeit bis hin zur Implementierung von Policy und den Arbeitsweisen der Verwaltung. Aktuell dominiert dieses Feld die umsetzungsorientierte Forschung, eine genuin politikwissenschaftliche Reflexion ist noch rar (Klenk, Nullmeier & Wewer 2020).
Auf der Perspektivtagung wollen wir diese Veränderungen gemeinsam durchdenken und prüfen, welche neuen politikwissenschaftlichen Fragestellungen sich aufdrängen, welche bekannten politikwissenschaftlichen Konzepte sich hier neu manifestieren und welche “vergessenen” Argumente in diesem Kontext neue Relevanz erhalten.
Naheliegende Beispiele sind:
- Veränderungen der epistemologischen Grundlagen der Politik (Rieder & Simon 2017) sowie der wissenspolitischen Machtverhältnisse (Thapa 2018) durch eine datenbasierte Wahrnehmungsfähigkeit des Staates gegenüber der Gesellschaft (Scott 1998) dank Data Analytics und vernetzte Sensoren.
- Neue Möglichkeiten der Koordination und Aufgabenteilung durch digitale Technologien im Föderalismus. Praktiker:innen diskutieren aktuell die Aufgabenkritik der “Dresdner Forderungen” oder Konzepte wie “Government as a Platform” (O’Reilly 2011).
- Mit den Kommunikationstechnologien verändern sich die möglichen gesellschaftliche Organisationsformen. Unter dieser Prämisse lohnt sich ein Blick auf tradierte Strukturen wie den deutschen Korporatismus, etwa im Sozialversicherungs- und Wohlfahrtswesen (Busemeyer et al. 2022), und langdiskutierte Konzepte wie die Bürgerkommune. Zudem verschiebt der Zusatz “Cyber-” möglicherweise die Umsetzbarkeitsschwellen diverser Anarchismen (Gordon 2009) und Sozialismen (Boucas 2020).
- Digitale Werkzeuge erweitern den Instrumentenkasten der gesellschaftlichen Steuerung, von Nudging (Straßheim, Jung & Korinek 2015) über design-based regulation (Yeung 2018)
- Die technokratischen Steuerungsversprechen der Smart City und des Smart Government werfen alte Debatten der kybernetischen Politik und der Planungseuphorie neu auf, die angesichts der veränderten technischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu neuen Antworten führen können.
- Die digital ermöglichte Responsitivität der Verwaltung auf gesellschaftliche Bedarfe und Wünsche verschiebt potenziell die Beziehungen zwischen Bürger:innen, Verwaltung und Politik (Snellen 2002).
- OECD-weit lebt derzeit die alte (Fiedler 1966) rechtsinformatische Diskussion um die Algorithmisierbarkeit des Rechts und – in abgeschwächter Form – digitaltaugliche Gesetzgebung auf.
- Die Datafizierung überführt das auf potenzieller Beobachtbarkeit beruhende Panoptikon zu einem Panspektrum vollständiger Beobachtungsfähigkeit (Braman 2009). Dies wirft gerade bei der disziplinarischen Rechtsdurchsetzung grundsätzliche Fragen beim Verhältnis zwischen Bürger:innen, Recht und Staat auf (Yeung 2018).
- Die aktuelle politische Debatte um digitale Souveränität bietet zahlreiche politikwissenschaftliche Anknüpfungspunkte (Pohle 2020). Eine unterbeleuchtete Perspektive könnte hier die politökonomische Kritik der Abhängigkeit des Staates von privatwirtschaftlichen Technologiedienstleistern (Margetts 1999) sein.
- Wie bewerten die Bürger:innen den Einsatz von algorithmischen Systemen in Staat und Verwaltung und welche Konsequenzen hat dies für die Legitimität von staatlichem Handeln (Kennedy, Waggoner & Ward 2022)? Wie verändert algorithmische Systeme die Arbeit in der Verwaltung?
Wir freuen uns auch auf ganze Thesen und Fragen!